Mittwoch, 1. April 2015

Zur Geschichte der Lesekränzchen

Die folgenden Leseprobe stammt aus meinem Aufsatz »Das Lesekränzchen geht jeder anderen Einladung vor«, erschienen im "Delitzscher Jahrbuch für Geschichte und Landeskunde 2015", Copyright: Verlagshaus Heide-Druck Bad Düben, 2014.


"Ein »Kränzchen« zu besuchen, ist aus der Mode gekommen. Die seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesene Konnotation für Kränzchen als "eine Gesellschaft, die sich reihum bei den Mitgliedern trifft"1, ist aus der Mode gekommen ebenso wie die Kränzchen selbst. Im 18. und 19. Jahrhundert, sogar bis in das 20. Jahrhundert hinein, waren in Deutschland Kaffee- und Teekränzchen bekannt, seit der Aufklärung auch Lesekränzchen, die in Deutschland wohl in Berlin in den 1780er und 1790er Jahren ihre Anfänge nahmen.2
Freilich ging dem eine aufklärerische Entwicklung in Frankreich voraus, wo sich schon seit dem frühen 17. Jahrhundert eine Salonkultur um Damen entwickelt hatte, die keinen individuellen, freien oder geschäftlich wirksamen Auftritt in der Öffentlichkeit hatten3, und die deshalb in ihren häuslichen Räumlichkeiten in losen Treffen hervorragende Personen verschiedener Betätigungs- und Interessengebiete um sich scharten4 und damit eine Art eigene Privatgesellschaft ohne sture Einhaltung der Ränge und Hierarchien etablierten. Zwar stand damals noch nicht das freidenkerisch-politische, sondern das gebildete Wollen im Vordergrund dieser weiblichen Aktivitäten, zudem drückte sich über die Organisation dieser Salons das Selbstbewusstsein der Damen aus.
Berühmt geworden sind die Salons der Marquise de Rambouillet, der Madame de Sablé, der Mademoiselle de Scudéry. Sie und die anderen Salonnieres schufen im Laufe des 17. Jahrhunderts Horte der Moden und des geistigen Austauschs, bereiteten den Boden für Konversationen über wissenschaftliche Entdeckungen, Kunst und Philosophie.5 Im 18. Jahrhundert wechselten die Themen in den Salons. Die Salonniere Marie Thérèse Rodet Geoffrin (16991777) beispielsweise, die über den beeindruckenden Zeitraum von 28 Jahren zweimal wöchentlich in ihren Salon lud, traf Regenten und Geistesgrößen ihrer Zeit.6

Lesegesellschaften als Leseclubs mit männlichen Mitgliedern bildeten dann das Gegenstück zu den Salons der Salondamen und waren selbst wiederum teilweise Vorläufer der Lesekränzchen bzw. bestanden auch parallel zu ihnen. Die Statuten der Lesegesellschaften verwehrten nahezu ausnahmslos Personen von niedrigem Stand, wie Studenten, und Frauen den Zugang. Interessenten fanden meist nur Aufnahme in die Gesellschaften, wenn die Mitglieder darüber berieten und der Aufnahme zustimmten – die Lesegesellschaften schotteten sich nach außen ab und diskriminierten fröhlich nach Geschlecht und Stand. Die Männer dort lasen meist nur aufklärerische politische Werke, während belletristische Bücher nicht in ihre Hände gelangten.7 Seit 1760 sind diese Lesegesellschaften für den deutschsprachigen Raum nachgewiesen, die als Club, Kabinett, in einer Art Ringtausch- oder als Einkaufsgemeinschaften für die damals noch kostbaren Bücher funktionierten. Einzelne Lesegesellschaften haben sich bis heute erhalten, wie die »Lesegesellschaft zu Köln von 1872«, die 1787 gegründete »Allgemeine Lesegesellschaft Basel«, die 1790 entstandene »Lesegesellschaft Wädenswill« oder die 1818 gegründete »Lesegesellschaft Bülach«.

Familiär geprägt waren dagegen die Lesekränzchen, für die es erste Nachweise ebenfalls für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt. Schon 1724 rief die Hamburger Wochenzeitung »Der Patriot« Familien dazu auf, Lesekränzchen abzuhalten. Diese sollten von vier Familien mit ihren Kindern reihum durchgeführt werden. Mitzubringen seien Handarbeiten für die Frauen, Wein, ein Buch sowie eine Schüssel mit Speisen. Der Gastgeber habe jeweils für Tee und Kaffee zu sorgen.8
Spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert waren Lesekränzchen nahezu ausschließlich Treffen von Frauen des Bildungsbürgertums. Meyers Großes Konversationslexikon definiert ein gutes Jahrhundert später 1907: »Kränzchen (Kaffeekränzchen): Nachmittagsgesellschaften befreundeter Frauen und Mädchen, die sich der Reihe nach abwechselnd an einem Tag der Woche (Kränzeltag) bei einem Mitglied des Kreises versammeln. Das K. wird als schweizerische Gewohnheit bereits 1775 von Sophie Laroche in ihrem in Jacobys >Iris< veröffentlichen Briefroman9 erwähnt.«10 Das Zitat von La Roches, auf das hier verwiesen wird, lässt erahnen, welcher Ruf den Kränzchen in den Anfangsjahrzehnten anhing:
»Jeden Donnerstag kommen sie mit ihrer Arbeit, Nachmittags um drey Uhr, artig geputzt, zusammen; trinken eine Tasse Coffee, aber nicht heiß, weil heißer Coffee der Schönheit und der Reinlichkeit der Gesichtsfarbe schadet. Nach diesem geben sie einige Teller mit Obst und Confect. […] Dann wird erzählt, was man Schönes und Nützliches gelesen oder gehört, und sich eigen gemacht. Nachdem Etwas aus dem Schauplatz der Natur, einer Wochenschrift, eine Comödie, oder Poesie gelesen; darüber geredet und auf die Letzt für Arme etwas Geld gesammelt;«
Auch noch 100 Jahre später beklagt Luise Büchner in ihrem Werk »Die Frauen und ihr Beruf«, dass die junge Frauen nicht vernünftig vorlesen könnten und die Lesekränzchen dagegen keine Abhilfe zu schaffen vermögen. 11
Später deutet man die Lesekränzchen, die sich in Deutschland von Berlin ausgehend seit dem 1780er und 1790er Jahren schnell und bis in den ländlichen Raum hinein verbreiteten, als Horte der Bildung, die der Galanterie der Frauen, also dem eher oberflächlichen Kokettieren und Schöntun, in scharfem Gegensatz gegenüberstehen. »Der Endzweck ihres Zusammenseins ist Bildung.« stellt der Kulturhistoriker Max von Boehn 1905 in seinem Bestseller »Die Mode« fest.12 [...]"

1Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York: 2002. S. 535.
2Wilhelmy-Dollinger, Petra. Die Berliner Salons: mit historisch-literarischen Spaziergängen. Berlin, New York: 2000, S. 63. Nicht eingegangen wird hier auf weitere Kränzchen-Typen, wie Freimaurerkränzchen (Vgl. z. B. Wilde, Manfred: Delitzsch. Alte Bilder erzählen. Erfurt 1998, S. 71), Schweizer Handwerker-Lesekränzchen (vgl. Malten, H. [Hg.]: H. Malten's Neueste Weltkunde, Aarau 1836, S. 41f.) oder Studentenvereine, die sich etwa in Halle verniedlichend „Kränzchen“ nannten (Vgl. Pollandt, Peter: Vivat, crescat, floriat! Postkarten alter hallescher Studentenverbindungen. Halle 2002, S. 13).
3Weiterführend zur Entwicklung der Mädchen- und Frauenbildung im 18. Jahrhundert empfiehlt sich die Lektüre der Dissertation von Christiane Brokmann-Nooren. Weibliche Bildung im 18. Jahrhundert : »gelehrtes Frauenzimmer« und »gefällige Gattin« Oldenburg 1992. Zugang über Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg.
4Onuki, Atsuko. Geselliges Gespräch als eine andere Quelle der Vernunft – Herausbildung der 'Universalität' und Konstruktion der Gender-Differenzen. In: Kimura, Naoji und Karin Moser von Filseck (Hrsg.). Universalitätsanspruch und partikulare Wirklichkeit. Würzburg 2007. S. 139.
5De los Lanos, José. Das Denken und die Wissenschaften. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Geist und Galanterie. Kunst und Wissenschaft. Im 18. Jahrhundert. Bonn 2002, S. 21f.
6De los Lanos (wie Anm. 5), S. 23f.
7Vgl. zu den Lesegesellschaften Schön, Erich: Lesestoffe, Leseorte, Leserschichten. In: Glas, Horst Albert und Vajda, György M. (Hrsg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik. 1760 bis 1820. Amsterdam, Philadelphia 2001, S. 77-114, hier S. 100ff.
8Vgl. Hausen, Karin: »Eine Ulme für das schwache Efeu« Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im 18. und 19. Jahrhundert. In: Frevert, Ute: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Göttingen 199, S. 108.
9Gemeint ist damit der Roman »Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianne von St«, im Erstdruck 1779-1781 in Altenburg bei Richter erschienen. Verfasserin war die Schriftstellerin Sophie von La Roche, die von 1771 bis 1780 in Koblenz regelmäßig in einen eigenen Salon einlud.
10Meyers Großes Konversationslexikon. Band 11. Leipzig 1907, S. 595.
11 »Die fehlende Uebung ist wohl in der Regel die Hauptursache dieses Mangels, nicht minderder Umstand, daß die jungen Leute eben darum zu selten gut vor lesen hören. Die Lesekränzchen, wo mit vertheilten Rollen gelesen wird, helfen dem Uebel nur wenig ab. Erst muß man fließend Prosa vorlesen können, ehe man sich an die gebundene Sprache wagt, und die Meisten lernen dort nicht mit Geschmack lesen, sondern nur declamiren. Ueber die Art dieser Declama tion, über das fal sche athos, das dabei gewöhnlich in Anwen dung kommt, breite sich schweigend die Decke der Duldung. Wir wollen nur daran erinnern, daß für das Ganze durch diese Leseübungen wenig gewonnen wird. Die Hauptrollen fallen schließlich doch immer, und zwar mit dem größten Recht, an die zwei oder drei guten Leser, welche in der Regel den Kern dieser Vereinigungen bilden.« Büchner, Luise. Die Frauen und ihr Beruf. 4. Auflage, Darmstadt 1872, S. 277. Als ebook abrufbar: http://www.ngiyaw-ebooks.org/ngiyaw/buechner/frau_beruf/frau_beruf.pdf

12Boehn, Max von: Die Mode: Menschen und Moden im neunzehnten Jahrhundert. 17901817. 3. Auflage, München 1905, S. 158.

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